Mehr Ideen als ein Merz
Die Grünen hatten zum Town Hall Meeting geladen. Sie präsentierten sich als Partei mit frischen Ideen und wenig Kontroversen.
Eine kommentierende Analyse von Lars Graue
Die Grünen sind auf der Überholspur. Mit Blick auf die Bundestagswahl im September wird sogar gemunkelt, ob es nicht eine Grüne ins Kanzleramt schafft. Vorher steht allerdings in Sachsen-Anhalt noch die Landtagswahl an. Stärkste Kraft wird die Fraktion dort wohl kaum. Trotzdem ist der Rückenwind aus der Bundeshauptstadt allmählich auch in Sachsen-Anhalt zu spüren – Umfragewerte stellen eine Verdopplung des Wahlergebnisses von 2016 in Aussicht. Bei dem digitalen „Town Hall Meeting“ stellte das „Spitzen-Team“, bestehend aus Conny Lüddemann (Spitzenkandidatin), Claudia Dalbert (Umweltministerin) und Sebastian Striegel (Landesvorsitzender), das Parteiprogramm für die Wahl am 6. Juni vor. Im Mittelpunkt standen vor allem die Fragen der Zuschauenden, die sie live auf Facebook oder YouTube gestellt hatten.
Dass Klimaschutz das unantastbare Thema Nummer eins bei den Grünen für die Wahl ist, dürften gar politisch Desinteressierte geahnt haben – so weit, so gut. Aber steckt noch mehr Substanz hinter der ehemaligen Nischenpartei? Findet das „Spitzen-Team“ auch Spitzen-Antworten, auf die zum Teil sehr spezifischen Fragen der Bürger*innen?
Aus der Perspektive von jungen Menschen dürfte die Antwort „Ja“ lauten. Vielleicht führte auch die hip anmutende Collegejacke von Striegel zu mehr gefühlter Authentizität. Oder das mitgesprochene Gendersternchen der Moderatorin, auch wenn sie für kein politisches Amt kandidiert. Auch inhaltlich merkte man dem Trio den Fokus auf junge Wähler*innen an: Beispielsweise, als Spitzenkandidatin Lüddemann nach dem Ärztemangel im ländlichen Raum gefragt wurde. Sie ging nicht auf ältere Menschen, sondern exemplarisch auf junge Familien ein, die etwa Sorgen angesichts fehlender Kinderärzt*innen hätten. Man müsse auch Verständnis für junge Mediziner*innen aufbringen, die mehr auf „ihre Work-Life-Balance“ achten würden, anstatt eine eigene Praxis aufmachen zu wollen. Stattdessen schlug Lüddemann – wie man in der DDR sagte – Polikliniken bzw. Ärztezentren vor, damit sich die jungen Ärzt*innen auf ihren Job, statt auf Bürokratie konzentrieren könnten. Oder man müsse die Digitalisierung hierfür nutzen, damit Menschen auf dem Land nicht von medizinischen Leistungen ausgeschlossen werden – Stichwort: Telemedizin.
Auch in Bezug auf das Thema Digitalisierung machten die Politiker*innen deutlich, dass sie mehr Ideen anzubieten haben, als die Forderung nach E-Mail-Adressen für alle Schüler*innen – Grüße an Friedrich Merz gehen raus. Glaubhaft machten sie das etwa durch den Entschluss, ein Digitalisierungsministerium einführen zu wollen. Selbst in dem Moment, als Lüddemann eher unzureichend auf die Frage nach der Digitalisierung der Schulen geantwortet hatte, sprang Striegel ihr zur Seite. „Damit haben wir zunächst nur Infrastruktur“, so Striegel als Reaktion auf Lüddemanns Plädoyer für Glasfaser-Anschlüsse an allen Schulen. Stattdessen müssten die Lehrer*innen auch befähigt werden, die Geräte zu nutzen – etwa mit zusätzlichem Personal an Schulen. Auch Dalbert, die sonst (qua ihres Ministeramtes) insbesondere bei Umweltfragen mit Fachkenntnis punkten konnte, stellte die Didaktik in den Mittelpunkt. Diese Anpassung hätten die Grünen in der aktuellen Regierung mit CDU und SPD bereits gefordert, jedoch sei sie von den Koalitionspartnern nicht umgesetzt worden.
Dalbert zeigte sich im Allgemeinen eher zurückhaltend mit ihrer Kritik ins schwarze Politiklager. Sie konnte oder wollte nicht benennen, was Knackpunkte in Koalitionsverhandlungen mit der CDU wären. Scheinbar hat sie im Hinblick auf anstehende Sondierungsgespräche keine Lust auf einen weiteren Zwist mit den Konservativen – harsche Kritik von CDU-Abgeordneten musste sie in ihrer Amtszeit als Umweltministerin immer wieder einstecken. Lüddemann konnte hier die vagen Worte Dalberts zurechtrücken, indem sie jegliche Zusammenarbeit mit der AfD kategorisch ausschloss. Ihr Zusatz: „Da waren wir im letzten Koalitionsvertrag offensichtlich für einige Kollegen der CDU nicht klar genug“. Während der Veranstaltung kamen immer wieder verbale Seitenhiebe auf die CDU zur Sprache, mehrheitlich von Lüddemann. Wie etwa in Sachen Mobilitätsgarantie, beim Thema Lehrer*innenmangel oder in puncto Geschlechtergerechtigkeit. Die Abgrenzung zur konservativen Politik der Christdemokraten ist auch bitter nötig – wenn alle Beteiligten die sprachliche Vorsicht von Dalbert übernommen hätten, hätte sich das Führungstrio wohl unglaubwürdig bei ihrer jungen Wähler*innengruppe gemacht.
Trotz allem wären zu große Risse zwischen Grünen und CDU für das Land Sachsen-Anhalt hochproblematisch. Eine erneute Kenia-Koalition ist deshalb wohl am wahrscheinlichsten. Nicht, weil sich CDU, SPD und Grüne nach fünf Jahren jauchzend in den Armen liegen. Sondern vorrangig, weil mit einer solchen Konstellation eine Regierungsbeteiligung von „Antidemokraten“, wie Striegel die AfD mehrfach bezeichnete, auszuschließen ist.
Die gesamte Veranstaltung zum Nachschauen auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=oEbOhbd3urs